Discussion:
Frage zur Tonart in einem Bach-Choral
(zu alt für eine Antwort)
Richard Koellner
2003-11-27 20:04:15 UTC
Permalink
Hallo Newgroup,

auf meiner Seite habe ich kürzlich das Lied "Ich steh an deiner Krippen
hier", BWV 469, eingestellt. Nach den mir vorliegenden Notentexten (ich habe
es ja auch nur abgeschrieben) ist es mit 2b (g-moll) notiert.

Links:
meine Fassung: http://www.notenseiten.de/lieder/pdf/Ichstehan-G2B.pdf
2-stimmige Fassung:
http://www.tobis-notenarchiv.de/noten/bach/choral/BWV0469a.pdf

Hans-Christoph hat mich darauf hingewiesen, dass die Melodieführung
eigentlich auf c-moll hindeutet. Er schreibt:

<zitat>
Der Choral ist ganz klar c-Moll im ersten Teil, geht in die
Durparalelle Es-Dur im zweiten Teil, und kehrt wieder zurück zu
c-Moll. Alle betonten Noten (Schlag 1 und 3) im ersten Teil sind (mit
Ausnahme eines einzigen Tones, nämlich b) aus dem c-Moll-Dreiklang
entnommen. Ein g-Moll-Gefühl würde doch Töne aus dem g-Moll-Akkord
g-b-d bedingen, aber das d tritt überhaupt nur zweimal auf, einmal auf
dem unbetonten Schlag 2 und dann ein weiteres Mal gar nur noch als
Achteldurchgang.

Dass das dritte Vorzeichen fehlt, sieht man nicht zuletzt auch daran,
dass praktisch jedes Vorkommen von a zu einem as alteriert wird. Die
Wendung in der letzten Verszeile mit dem aufgelösten a ist dann die
melodische Molltonleiter, wo aufwärts die sechste und siebte Stufe
erhöht werden.

Ich würde das gerade aus didaktischen Gründen unbedingt in c-Moll mit
3b notieren; es gibt einfach keine (musikalisch) sinnvolle Begründung
für eine 2b-Fassung.
</zitat>

... und ich kann an seiner Argumentation keinen Fehler finden.

Das Einzige, was für mich auf g hindeutet, ist die starke Betonung des g im
letzten Takt des ersten Teils. Aber ich bin kein ausgebildeter Musiker, und
schon gar kein Spezialist für Barockmusik.

Wenn es kein Transkriptionsfehler ist, hat jemand eine Idee, was Bach dazu
hätte bewegen können, 2 statt 3 b zu verwenden?

- Richard
Jörn Hänsch
2003-11-27 21:08:28 UTC
Permalink
Post by Richard Koellner
Hans-Christoph hat mich darauf hingewiesen, dass die Melodieführung
[...]
Post by Richard Koellner
... und ich kann an seiner Argumentation keinen Fehler finden.
Alles soweit korrekt! - Würde ich auch so sehen.
Post by Richard Koellner
Das Einzige, was für mich auf g hindeutet, ist die starke Betonung des g im
letzten Takt des ersten Teils. Aber ich bin kein ausgebildeter Musiker, und
schon gar kein Spezialist für Barockmusik.
Der erste Teil moduliert ganz klar nach g - allerdings nicht g-Moll,
sondern G-Dur. Das ist die Dominante von C-Moll ;-)
Somit passt das schon mit den 3b.
Post by Richard Koellner
Wenn es kein Transkriptionsfehler ist, hat jemand eine Idee, was Bach dazu
hätte bewegen können, 2 statt 3 b zu verwenden?
Kurze Gegenfrage: Ist die Vorzeichnung Orginal von Bach?( Hab grad
meinen Schemelli nicht zur Hand).
2b in dem Zusammenhang bedeuten eigentlich "dorisch", wo vor allem
gegenüber normalen Moll die erhöhte 6. Stufe Charakteristikum ist.
Aber irgendwie witzlos, wenn genau das über Vorzeichen wieder
ausgehebelt wird ..

Auf der anderen Seite; Bach hat auch eine dorische Toccatta
geschrieben, die eigentlich keine ist ;-)

Jörn
--
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Hans-Joachim Röhrs
2003-11-27 22:26:14 UTC
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Der Historiker gibt folgendes zu bedenken:

Noch zu Bachs Lebenszeiten war es üblich, d-moll mit dem ersten Kirchenton, dem
Dorischen, gleichzusetzen. Man notierte (Schütz, Praetorius etc. pp. handeln
genauso) d-moll ohne Generalvorzeichnung.
Der zweite figurale Kirchenton lag/liegt auf g als in dieser Zeit bereits de
facto reines g-moll. Man notiert ihn (wie ist das bei Nivers, Grigny, Raison,
Clerambault, DuMage etc, Frescobaldi, ja bei Dufay mit dem zweiten Ton??) in
Analogie zum ersten Ton mit einem 'B' als Generalvorzeichnung. Nun, weiter ging
es bei den vier Kirchentonarten cum tertia minori nicht, wohl aber in der
Tonartenlehre beim Kapellmeister Bach. Er notiert c-moll in geistlicher Umgebung
oft -aber nicht immer- mit zwei generell vorgezeichneten 'B'.

Die General-Vorzeichensetzung war zur Zeit Bachs noch keineswegs normativ
gefestigt, wie der Blick auf den "Dritten Theil der Clavier Übung" lehrt. Das
Präludium in Es-Dur weist im oberen System vier 'B', im unteren fünf dieser
Vorzeichen auf (jeweils mit Dopplungen). "Christ unser Herr zum Jordan kam"
(c-moll) hat zwei 'B' (+ Dopplung), die Orgel(?)-Triosonate BWV 526 in c-moll
ist mit 'klassischen' drei 'B' für c-moll versehen.

Der Choral "Ich steh' an deiner Krippen hier" wurde im Original Schemellis mit
zwei Generalvorzeichen gedruckt; an der Tonart c-moll besteht indes nicht der
geringste Zweifel.

Wer sich mit einer reizvollen, traditionellen Tonartenquelle befassen will,
studiere F.X.A. Murschhausers Academia musico-poetica bipartita, Nürnberg 1721
(dem Jahr von Bachs sechs Brandenburgischen..), mit der ihn Johann Mattheson in
seiner Rezension in den Critica musica gerade wegen der Tonartenlehre schwerst
auf die Nase fallen ließ...

Hans-Joachim
thomas schönsgibl
2003-11-28 14:23:32 UTC
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hallo,
voraus schicken muß ich, daß ich von musikgeschichte und klassischer
harmonielehren eigentlich keine ahnung habe.
Post by Hans-Joachim Röhrs
Noch zu Bachs Lebenszeiten war es üblich, d-moll mit dem ersten Kirchenton, dem
Dorischen, gleichzusetzen.
warum machten die das?
das würde doch darauf deuten, das dorische die ältere "moll-tonart"
ist und daß unser jetziges " natürliche moll " ( aeolische ) erst später
zu dem wurde was es heute ist.
zum " ich steh an deiner krippe hier " meine meinung ( ich kann mich
natürlich irren ) ist, daß bach hier nicht an " dorisch " dachte, ich
glaube er dachte ungefähr so:
das stück ist in C "melodisch moll "mit den tönen:
C D Eb F G A H C aufsteigend und
C D Eb F G Ab B C absteigend ( hier bin ich mir nicht sicher, weil für
jazzer hat "melodisch moll" auf,- und absteigend die gleichen töne.
und ich glaube, das er sich dachte, daß man "melodisch moll" mit 2b
besser notieren kann als mit 3b. oder vielleicht wollte er auch mit den
2b dem spieler sagen, daß hier nicht ein "ordinäres" "natürliches"
verwendet wird.
übrigens das Ab wird hier auch immer in absteigenden phrasen
benutzt, was wieder auf " melodisch " moll hindeutet und nicht auf
dorisch.
kannte bach "ionisch - dorisch - phrygisch - lydisch - mixolydisch -
aeolisch - lokrisch"? ich kenne mich da nicht so recht aus.
in der klassischen harmonielehre hat das auch keinen grossen
stellenwert, oder?
ich dachte das " ionisch - dorisch - ....." wäre erst durch jazzer
so richtig eingeführt worden. sie haben sich da zwar auf " alte quellen
" berufen es aber als "denkprinzip" neu "erfunden."
für mich macht es auch nur beim improvisieren sinn in diesen
kategorien zu denken.
mich würde deine meinung dazu interessieren. liege ich da falsch?
tschüß und schönen tag
thomas
Hans-Joachim Röhrs
2003-11-28 20:07:02 UTC
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Lieber Thomas,

nachdem auch ich lange nach dem 'Sündenfall' der dur-moll-tonalen
Funktionsharmonielehre lebe, kann, ja darf ich eigentlich keine Aussagen zu
den gefühlsmäßigen Vorstellungen von Musikern machen, die seinerzeit mitten
in der Entwicklung dieser damals noch neuen Tonartenentwicklungsform
standen. Aber man riskiert es halt doch, selbst wenn es schnell länglich
wird.

"Warum machten die das?", fragst du. Sie machten das nicht, sondern der 1.
Kirchenton war halt wesentlich eher da als die dur-moll-tonale
Harmonielehre. Das Dorische (besser -in meinen Augen- "der erste Ton") ist
wohl die Kirchentonart schlechthin; die ersten vier Kirchentöne (figuraler
Natur) sind solche mit kleiner Terz, wobei der vierte janusköpfig mit
kleiner Terz läuft, jedoch 'halbschlüssig' (so sagen wir 'traditionell') auf
der 5. Stufe (richtiger über eine cadentia minor) mit Durterz endet. Ab dem
5. Ton gibt es nur noch die große Terz über dem Grundton. In den acht
figuralen Kirchentönen ist daher bereits das dur-moll-tonale Prinzip
angelegt ("wir haben eigentlich nur mehr zwei Tonarten", sagt die Theorie am
Ende des 16. Jahdts.).

Jene figuralen Tonarten gelten im katholischen Kirchenmusikbereich bis in
die Wiener Klassik hinein, für Bach indes zählte zwar die Tradition (er
beschafft für die Thomaner ein Exemplar des 100 Jahre alten Florilegium
Portense Erhard Bodenschatzens), nicht mehr aber die prinzipielle
Verwobenheit der Figuralmusik in den (zeitgenössischen!) gregorianischen
Choral. Bachs Welt ist der Choral als die evangelische Cantio, die neu
erfunden werden darf und neu erfunden wird; wie unser Lied (und seine
genuine Umgebung) ja lehren. Das ist beim cantus planus anders!

Bach dachte in 'unserem Lied' unverkennbar in den Kategorien, die uns als
Dur-Moll-Antithese vertraut sind. Davon übrigens weichen Luthers Lieder mehr
oder minder intensiv ab; er folgt noch kirchtonal geprägten
Erfindungsformen, was den heutigen Harmonisator mitunter zu durchaus
reizvollen Lösungen animieren kann. (also ansehen und
Harmonisierungsversuche machen; Osiander-Sätze vergleichen). Bei Luthers
Chorälen wird in der "Erfindung" auch offensichtlich nicht primär auf
melodiöse Floskeln, sondern auf kontrapunktische Möglichkeiten abgestimmt.

Du allerdings hast mit deinen weiteren Assoziationen aber auch zielstrebig
den Finger an wesentliche Stellen gelegt: Bach wird durch die
'Zwei-B-Notation' vollkommen frei für die schöne Schlussteigerung, wie ich
unten für Richard schon darzulegen müssen meinte. Ob Bach darauf mit 3 'B'
gekommen wäre..., ich bin mir da nicht so sicher. Aber auch du hast ja einen
ähnlichen Eindruck...

Außerdem hast du Recht, dass man sich damals (wie heute) auf Traditionen
berief, aber sehr wohl -mit den Mitteln der Alten- seinen eigenen Stiefel
setzte. Man kannte das ja, was die Alten getan hatten, wusste damit
umzugehen (man hatte es ja gelernt), schob aber solange daran herum, bis es
in die eigenen Vorstellungen passte.
Wir machen das nicht anders: Mit der Notschenschrift Bachs kann man atonal
setzen, was bei ihm zweifelsfrei Unverständnis auslösen würde.

Ich hoffe deine Fragen -wenn auch aus mitunter ungewohntem Blickwinkel-
hinreichend beantwortet zu haben, wobei zu bedenken ist, dass auch die
Tonartenlehre eines der Kapitel ist, über dessen Behandlung so manches
Musikologenleben erschöpft zuende ging. Die dabei erzielten Ergebnisse haben
mich als Tasteninstrumentendrücker jedoch immer unbefriedigt gelassen, wobei
ich an die einschlägigen Arbeiten von Dahlhaus, Meier oder Hermelingk
denke... Zumeist ist es besser, selbst in die Noten zu sehen, Freude am
Gegebenen und Verständnis für Gegebenes zu suchen, als sich den
Vorstellungen jemandes anzuschließen, der einem das Denken (und Empfinden)
abzunehmen willens ist.

Hans-Joachim

Richard Koellner
2003-11-28 17:54:27 UTC
Permalink
Post by Hans-Joachim Röhrs
Der Choral "Ich steh' an deiner Krippen hier" wurde im Original Schemellis mit
zwei Generalvorzeichen gedruckt; an der Tonart c-moll besteht indes nicht der
geringste Zweifel.
Kapiert.

Die für mich neue Erkenntnis ist, dass man anhand der Generalvorzeichen
(zumindest in der Barockmusik) nicht immer automatisch auf die Tonart
schließen kann. Wieder was dazu gelernt...

Wäre es eigentlich ein schlimmer Fauxpas, dieses Stück mit 3b zu notieren,
um den heutigen Lesegewohnheiten entgegen zu kommen?

- Richard
Hans-Joachim Röhrs
2003-11-28 19:14:44 UTC
Permalink
Lieber Richard,

mit einer Notation, die heutigen Gepflogenheiten folgt habe ich hier (im
Wesentlichen wirklich dur-moll-tonale Harmonielehre) keinerlei Probleme, denn
die gegebenenfalls auf Notationsphänomenen gründende Klangvorstellung von der
Tonart beeinflusst ja die Musik nicht mehr; die ist ja fertig.
Was meine ich damit:
Wäre Bach bei einer grundsätzlichen (= normierten) Notation mit drei generellen
'B' auf diese Schlusssteigerung bei "und lass dir's wohl gefallen"
(Paralleltexte der anderen Strophen ansehen!) gekommen? Wir wissen es natürlich
nicht, haben aber seine Musik, bei der wir analysierend damit rechnen müssen,
dass sie mit zeitgenössischen Notationsgepflogenheiten ggflls. korreliert,
sofern wir überhaupt das Bedürfnis haben, die Ebene der 'Inventio' bei Bach
verstehen zu versuchen. Zuhören ist ja auch schon schön genug.

Zur Kirchentonartenfrage ist es auch ganz interessant, sich im Facsimile einmal
den Bestand der Kirchentonartentranskriptionen in Georg Muffats wunderschön
gedrucktem Apparatus 1690, Töne 9-12 (vielleicht auch zusätzlich die weiße
Mensuralnoation in der Undecima...) anzuschauen und sich Gedanken zum
Informationsgehalt zu machen.
Alle diese Elemente sind Konflikt- und damit zumindest damals Ideenlieferanten
für den Kompositionsprozess.

Hans-Joachim
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