Post by Helmut WaitzmannZu welchem Zweck möchtest du das lernen?
Ich stelle es mir als eine Vorschule zum Singen von Intervallen
vor, weil es einem erlaubt, dann zu hören, ob man ein Intervall
richtig gesungen hat, und, wenn nicht, in welche Richtung man
falsch gesungen hat (zu hoch oder zu tief).
Beim Singen geht es eher umgekehrt: Man stellt sich einen zu
singenden Ton zuerst in seiner Höhe vor. Erst dann, wenn man in
der Vorstellung die richtige Tonhöhe gefunden hat, singt man ihn.
Ein nachträgliches Bewerten ist da nicht mehr nötig, und ein
Korrigieren käme nach dem Singen sowieso zu spät, weil der falsche
Ton dann schon gesungen worden wäre.
Ich vergleiche das damit, was ich tue, wenn ich einen Text vorlesen
will: Wenn ich einen Satz oder – je nach Satzlänge auch nur einen
Satzteil – fehlerfrei vorlesen will, lese ich ihn zuerst für mich
selbst tonlos (um für jedes Wort die richtige Aussprache zu
ermitteln und die Satzmelodie zu entdecken). Erst, wenn ich das
getan habe, lese ich ihn (zum weiten Mal) laut vor.
So funktioniert das auch beim Singen: Zuerst singe ich einen
Melodieabschnitt tonlos, dann hörbar.
Mit der Zeit funktioniert das sowohl beim Sprechen auch beim Singen
gleichzeitig nebeneinander her: Ich muss dann beim Vorlesen oder
Singen keine Denkpausen, in denen ich schweige, mehr machen.
Ich verwende ein Programm, das mir zufällig Intervalle aus einer
vorgegebenen Gruppe von Intervallen vorspielt. Diese beginnen
jedesmal auf einem zufälligen Grundton.
Nochmal der Vergleich zwischen Singen und lautem Lesen: Um laut
lesen zu lernen, lasse ich mir ja auch nicht Wörter von einem
Programm vorsprechen und überlege mir anschließend, wie sie
geschrieben werden.
Wenn ich mir jetzt gemerkt habe "so klingt eine Quarte abwärts",
dann ist es für mich schon nicht einfach, diese wiederzuerkennen,
wenn nur der Grundton (erste Ton) verändert wurde.
Bei den Intervallen, die mir gut vertraut sind, gelingt dieses
"mentale Transponieren" eher, aber bei Intervallen, die mir
weniger vertraut sind, verwirrt es mich schon, wenn das Intervall
nur in der Tonhöhe verschoben wurde.
Der Weg zum Ziel führt nicht darüber, dass ich mir eine Quarte
abwärts zunächst in einer anderen Tonhöhe vorstelle und sie
anschließend durch Transposition in die gewünschte Tonhöhe
verschiebe. Die Reihenfolge ist umgekehrt: Zuerst stelle ich mir
aus dem ersten Ton der Quarte den Tonvorrat oder die Tonleiter, die
dazu passt, vor. Dann suche ich aus der Tonleiter den passenden
Ton aus.
Du schriebst ja bereits, dass dir Oktaven, Quinten und Terzen
aufwärts schon geläufig sind.
Ich vermute mal, dass dir auch eine Oktave abwärts geläufig ist,
richtig?
Dann kannst du eine Quarte abwärts so ermitteln: Stelle dir vom
Anfangston zuerst eine Oktave abwärts vor. Den so erhaltenen Ton
nimm als Anfangston einer Dur‐Tonleiter. Stelle dir vor, dass du
die Tonleiter von unten angefangen bis zum fünften Ton (tonlos)
singst. Dann wiederhole den fünften Ton hörbar.
Die ersten fünf Töne einer Dur‐Tonleiter sind übrigens genau die
ersten fünf Töne des Kinderlieds «Alle meine Entchen».
Weil der fünfte Ton der Tonleiter eine Quarte unter dem achten
liegt, hast du damit die Quarte abwärts erreicht. Das ist das, was
ich in Kurzform mit dem folgenden Satz (das gelöschte Zitat
nochmals eingefügt) angedeutet habe. Nimm dazu von den
Post by Helmut WaitzmannEine Quarte (aufwärts/abwärts) erhält man, indem man eine Oktave
(aufwärts/abwärts) und danach eine Quinte (abwärts/aufwärts) geht.
Also insgesamt so: Lass dir vom Programm den ersten Ton der
absteigenden Quarte vorspielen. Halte das Programm an. Stelle dir
dazu eine Oktave darunter vor. Mit dem so vorgestellten Ton
beginnend, stelle dir eine Tonleiter (oder die ersten fünf Töne des
Lieds «Alle meine Entchen»[1] oder des Lieds «Häschen in der
Grube»[2]) vor. Singe tonlos die ersten fünf Töne der Tonleiter,
dann den fünften nochmals hörbar. Jetzt setze das Programm fort,
damit es dir den zweiten Ton der absteigenden Quarte vorspielt.
Stimmt er mit deinem überein?
[1]
<https://liederprojekt.org/lied30250-Alle_meine_Entchen.html>
[2]
<https://liederprojekt.org/lied30247-Haeschen_in_der_Grube.html>
Nochmal zusammengefasst: Zu üben, Töne zu treffen, funktioniert
nicht, indem man versucht, sich gemerkt zu haben, wie das zu
singende Intervall klingt. Man muss zu den zu singenden Tönen die
passende Tonleiter, also den passenden Tonvorrat ermitteln. Den
gewünschten Zielton ermittelt man dann durch passendes Abzählen der
Töne der Tonleiter.
Ein Vorteil dabei ist, dass – zumindest in nicht‐modulierenden
Melodien – die Tonleiter für die ganze Melodie passt. Den Aufwand
des Findens der Tonleiter hat man also nur einmal am Anfang des
Liedes. Anschließend kann man alle Töne der Melodie aus dem
Tonvorrat der Tonleiter bedienen. Die sich ergebenden Intervalle
von einem jeden Ton der Melodie zum ihm folgenden nächsten Ton der
Melodie sind dann nicht mehr interessant. Was zählt, ist nur noch,
von jedem Ton der Melodie bestimmt zu haben, der wievielte Ton der
gefundenen Tonleiter er ist. Wenn man das geschafft hat, kommt man
mit sieben Ergebnissen (sieben verschiedene Töne in einer
Tonleiter) aus, egal, wie lang die Melodie ist, und, welche
Tonsprünge (also Intervalle) in ihr aufeinander folgen.