Post by Martin KlaiberIch hatte als Jugendlicher einige Jahre Klavierunterricht und spielte
Musik von Bach, Albinoni, Diabelli, usw. Ich konnte in der Zeit zwar
alles vom Blatt spielen, aber wenn irgendwo ein Klavier stand und ich
etwas spielen sollte, war ich ohne Noten aufgeschmissen.
Ein neu aufgelegtes Stück spiele man, bis man es auswendig kann, dann fange
man mit dem Üben an, sprich, der Einübung in die Geläufigkeit und die
feineren interpretatorische Schliche. Es gibt so einen gewissen Punkt, ab
dem das Stück sich vor dem inneren Auge entfalten kann. Wenn man den
verpasst oder sich nicht darauf einlassen will, den Punkt zu finden, wird
das nichts. Ab so einem gewissen Zeitpunkt ist man oft genug durch das
Stück gegangen, dass man das Memorieren recht leicht zum Teil der weiteren
Übung machen kann. Der Unterschied, ob da Noten vor den Augen sind, oder
nicht, ist ab diesem Zeitpunkt nicht mehr sehr groß. Der Unterschied wird
erst dann wieder größer, wenn man es nicht über sich bringen will, die
Krücken einfach wegzulegen. Dann gewöhnt man sich wieder daran, dass man
sie braucht, und dann braucht man sie wirklich.
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Post by Martin KlaiberIch hatte im Unterricht zwar Harmonielehre, für das freie Spielen hat mir
das aber nichts genutzt.
Kann oder muss man freies Spielen/Improvisieren lernen oder entwickelt
sich das auch von allein, wenn man lange genug spielt/übt?
Fragt sich wohl, was man unter improvisieren verstehen will.
Die beiden obigen Punkte korrelieren:
Was heißt das, wenn jemand sagt, er hat im Unterricht Harmonielehre gehabt?
Letzteres ist eine Nullaussage, ungefähr so beliebig, wie wenn man sagt,
jemand könne improvisieren.
Als Lockerungsübung, um aus dem lamdläufigen Gedankenbeton herauszukommen,
wird es hilfreich sein, die kulturhegemonialen Strukturen andeutungsweise
kurz durchzubuchstabieren, von denen man bei obigen beiden Fragen abhängig
ist.
Wenn hingegen jemand alleine nur dem Begriff Genüge tun will: ach, da
improvisiert jemand, ach, das will ich auch, dann kann man es auch bleiben
lassen - zumindest solange es offenbar reichlich gleichgültig ist, was
denn überhaupt musikalisch ausgedrückt sein soll.
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Wenn man die Raster durchgeht, die landläufig als Bestandteil eines
kulturellen Selbstverständnisses gelten dürfen, so muss man wohl oder übel
auch deklarieren, in welchem der unterschiedlichen Raster man sich denn nun
aufgehoben, zu Hause, sieht.
Wenn dann jemand sich darauf versteifen will, alles, oder das am meisten
Fortgeschrittene, oder so jemand sonstwie mit Übermengen und Untermengen
herumchangiert, so trifft höchstwahrscheinlich wiederum dasselbe zu, als
wenn man nur einem Begriff Genüge tun will, oder, verschärft, man sich als
imperialer Usurpator sieht, dem alle kulturellen Strömungen zu Füße lägen.
Wenn man also entsprechend mit etwas harscheren Kriterien die Raster
durchgeht, die ein Zeitgenosse so in etwa aufgreifen kann, so schlüsselt
sich das mit dem Improvisieren und das mit dem zugrunde liegenden Handwerk
schon um einiges leichter auf.
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Das über allem dominante Raster für den Zusammenhang hier rekrutiert sich
zunächst aus dem Selbstverständnis des mehrstimmigen Tonsatzes, als
Errungenschaft, die sich nach und nach aus Kunst des Kontrapunkts
entwickelte. Handwerklich war dieses Phänomen einer kulturellen Entwicklung
zugleich mit der Klassik-Epoche in etwa ausgereift.
In diesem Handwerk, im Rahmen dieses historischen Horizonts, kann man
hernach seitdem: üben, üben, üben.
Und nun, schon aus den intrikaten Vorschriften für die Simmfortschreitungen
im vierstimmigen Satz, dem Modellstück für das Handwerk, finden sich die
melodischen Folgen wie von selbst.
Und siehe da, es bietet das einfache Handwerk die Einladung zur unablässigen
Ausgestaltung, kleine Stückchen von Ideen rufen wie von selbst ihre
Fortschreibung hervor. Die kleine Erfindung und deren handwerkliche
Einbettung gehen Hand in Hand.
Ähnliches war auch in der Epoche eine Zeit zuvor mit der Kontrapunktik im
Generalbass schon angelegt, allerdings ist der Kontrapunkt weit weniger
zwingend für die handwerkliche Einbettung kleiner Ideen, letzteren muss also
viel stärker eine je exklusive Aussage mitgegeben werden.
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Parallel dazu muss man nun die gesellschaftlichen Umschichtungen sehen. Im
weiteren Gefolge der Übernahme der politischen Macht durch Bürgerliche
änderten sich vor allem die Reproduktionsbedingungen auch im Kunstbetrieb,
was für die Musikausübung, wie für die Praxis in anderen Metiers, die viel
unnachsichtigere Ausbeutung der Ressourcen mit sich brachte.
Nun reicht es nicht mehr, handwerklich sauber den künstlerischen Ausdruck
unter die Leute zu bringen, die Künstlerexistenzen müssen in sagenhafter
Einmaligkeit sprießen, und sei es im übelsten Elend, als kennzeichnendem
Merkmal, das Material wiederum muss knarzen und sprühen, unter der
imperialen Fuchtel eines nun bezeichnend werdenden Genialitätskultes.
Eine kleine Idee, die sich unscheinbar in einen handwerklichen Kontext
einbetten möchte, hat nun als bescheidenes Anliegen etwas sozusagen
lächerliches an sich, wo rundum auf Exklusivitäten und Sensationen gewettet
wird. So färbt die Gestaltung auf den großen Bühnen auf die Erwartung
zurück.
Ach, und an den wesentlichen Krankeiten, die sich der Kunstbetrieb damals
zuzog, rein aus prinzipiellen Erwägungen, laborieren wir noch heute. Die
Exklusivitäten haben sich hin zu einem Warencharakter aller Erscheinungen
verschärft, aus dem Zirkus mit den Genialitäten ist ein Universalterror des
unviersellen Urheberanspruchs geworden.
Das Denken in Kategorien des Hegemonialen ist als Kolonialismus verfeinert
worden, und kaum dass man diesen Teufel loswerden hätte können, taucht er
als finanztechnischer Globalisierungsanspruch wieder auf.
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Die einst feine Errungenschaft für den Tonsatz, die sich am schönsten im
vierstimmigen Satz versinnbildlicht, wurde auf eine Popkultur gestutzt,
sodass die kleine Idee, die sich vielleicht hätte fortspinnen wollen,
dermaßen schäbig und aller Sinnstiftung beraubt, eher nun als Beleidigung
für den Verstand aufzufassen ist, als dass man sich dem widmen möchte, mit
drei Standardakkorden und Schablonenschlagwerk im Vierviertel. Schon gar
ist das Terrain zugleich mit dem Abstecken von Claims vergiftet, sodass
garantiert irgendwo irgendein Troll einen Anspruch auf genau die Tonfolge
hat, die einem beiläufig gerade eingefallen wäre. Es hätte vielleich einmal
ein Liedlein sein können. Es ist nurmehr eine Zumutung.
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Ja, da sind auch nochmal die Jährchen dazwischen, die endlos lange und
reichlich monotone Zeit, die insgesamt als Epoche der Moderne gelten soll,
dass ein musikalischer Ausdruck nun garantiert nurmehr als jeweils der
sagenhafte Aufguss von genialen Schöpfungen geduldet würde. Dass Menschen
einfach nur ihr Vermögen teilten, unbefangen und neugierig mit Musik zu
hantieren, ist so gesehen in weitem Umfang ziemlich vergiftet.
Nun, um diesen Werdegang aufzuschlüsseln, war der Sermon angesetzt.
So saßen sie brav dann alle an ihren Tasten, sonderlich auch die spezielle
Gattung der klavierspielenden höheren Töchter, und alle stets immer nur mit
dem Notenblatt vor der Nase.
Und doch ward dann noch einmal kurz eine Überraschung präsentiert, siehe da,
eine improvisierende Zunft im nachromantischen Fahrwasser, mit welcher der
Begriff der Improvisation vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg auch in
Europa in Beschlag genommen wurde - wenn es improvisiert ist, dann muss es
wohl ein Jazz sein.
Aber ach, es war ja dann doch wieder nur eine Fortschreibung des
kulturhegemonialen Trauerspiels, in dem Fall zusammen mit den Ergüssen von
Hollywood zur Geltendmachung eines Anspruchs auf Einzigartigkeit.
Der verfahrene Karren, was die Kunst der Improvisation nach den geänderten
Produktionsbedingungen in der Nachfolge des Klassik-Epoche verunmöglichte,
kehrte auf diesem Weg selbst als Methode der Ausbeutung auf der Ebene der
Begriffe wieder.
Dass im gleichen Sinn wie im Jazz auch in der arabischen oder der indischen
oder der balinesischen Kunstmusik improvisiert wird, ist bei solcher
Hochnäsigkeit schon nicht mehr der Rede wert.
Umgekehrt fallen auch diese Kulturen dem Sog anheim, wie das Handwerk der
Klassik-Epoche massiv verkitscht, reduziert und auf ein Vehikel für einfache
Ausbeutung getrimmt wurde. Vor einigen Jahren entsinne ich mich in
Chinarestaurants das unvermeidliche Gedudel zumindest aus dem Repertoire der
dortigen Musitradition vernommen zu haben. Was wurde daraus, in nur wenigen
Jahren? Dur/Moll und Vierviertel. Ha!
Also nochmals die Frage, andersherum: soll von Musik die Rede sein? oder
doch nur von in Begriffen gefassten Klischees? Wenn von Musik die Rede ist,
muss man sehr konkret von den Menschen sprechen, die sie machen und die sie
hören. Und das beginnt mit der Geschichtlichkeit der Situationen, in denen
sich die Menschen befinden, mitsamt all der Zumutungen und
Unzulänglichkeiten, denen die Leute ausgesetzt sind - und zunehemnd
ausgesetzt werden, sobald man die Schiene der Betrachtung abseits der
sterilen Verpackungen legt, mit denen eine heiles Museum von vermeintlicher
Lebendigkeit dne Leuten um die Ohren geschlagen wird.
Zur Zeit ist immer noch der Begriff Improvisation als kulturhegemoniales
Vehikel der Entfremdung unbrauchbar, oder er verweist in Zeiten, die nicht
mehr einholbar sind, dank der ausbeuterischen Epochen dazwischen.
Im Jazz gab es eine kurze Phase der Emanzipation von dieser Rolle des
einschlägigen kulturhegemonialen Vehikels - über eine kurze Zeit hätte man
zugleich auch von zeitgenössischer improvisierter Musik reden können. Es
ist aber sehr schnell wieder sehr still um diese Art von Deutungsmöglichkeit
geworden. Ich nehme das als Bestätigung meiner Darstellung.
Am besten, denke ich, man lässt die Begriffe Begriffe sein, prüft, ob das
Thema wirklich ein persönliches Anliegen ist, und wenn ja, nimmt man die
Knochenarbeit auf sich, dass man das mit Leben füllt, was einem vorschwebt,
irgendwo mitten durch den Stacheldrahtverhau des ziemlich irre gewordenen
Kulturbetriebs der Warenwirtschaftswelt, ihrer Ikonen (oder soll man sagen:
Mime-Generatoren?) und musealen Betonwüsten.